Dank Günter Wallraff sind sie mal wieder in aller Munde – die oftmals skandalösen Zustände in der Altenpflege. Es ist wichtig, Missstände aufzudecken und vor allem dafür zu sorgen, dass die Bedingungen menschenwürdig werden. Sowohl für die Bewohner als auch die Menschen, die in der Altenpflege arbeiten. Dass es auch anders geht, bleibt dabei allerdings oft unerwähnt. Dass es viele Menschen gibt, die diesen Beruf lieben und ihn mit ganz viel Leidenschaft ausüben. Dass es selbstverständlich auch Einrichtungen gibt, in denen das Leben lebenswert ist. Mit Skandalen lässt sich halt auch mehr Quote machen. Nic hat trotzdem eine andere Geschichte zum Thema anzubieten. Im Herbst 2013 habe ich zwei Wochen in einer Hamburger Seniorenresidenz gearbeitet und für die HÖRZU darüber geschrieben. Eine ebenso intensive wie schöne Erfahrung. Aber lesen Sie einfach selbst.

AusrissHoerzu

Mädchen, Mädchen. Das haben Sie doch schon so oft gemacht. Sie hätten mal zu meiner Zeit lernen sollen“, streng schüttelt Frau S. (91) den Kopf. Ich sollte ihr beim Anziehen helfen und habe die Bluse nicht in die Strumpfhose gesteckt. Mein zaghaftes Argument, dass ich dabei erst das zweite Mal assistiere, lässt sie nicht gelten. Frau S. war 50 Jahre lang Krankenschwester. Was sie nicht weiß: Ich trage die weiße Pflegerinnen-Kleidung zum ersten Mal und habe bisher höchstens meinen Kindern beim Anziehen geholfen. Es ist mein dritter Tag als Praktikantin auf Pflegestation 0 der Residenz am Wiesenkamp in Hamburg.

Wie läuft der Alltag im Pflegeheim?

Kaum eine Woche vergeht ohne Horror-Meldungen über die Zustände in deutschen Pflegeheimen. Deshalb soll ich mir selbst ein Bild davon machen, wie der Alltag in einer solchen Einrichtung läuft. Zur Vorbereitung habe ich Bücher und Reportagen über das Thema gelesen. Als ich die Zusage für mein Praktikum der Diakonie Hamburg bekam, war ich auf das Schlimmste vorbereitet. Die Residenz ist eines von über 40 Mitgliedseinrichtungen des Diakonischen Werks, 92 Menschen leben hier auf vier Pflegestationen, dazu kommen rund 200 Bewohner, die ihren Alltag in Appartements weitgehend selbstständig gestalten. Meine tägliche Teilzeit-Schicht geht von 8 bis 13 Uhr. Normal wäre eine Stunde früher, aber so kann ich noch vor Dienstbeginn die Kinder zur Schule bringen. „Bei Praktikanten sind wir mit den Arbeitszeiten flexibel“, erklärt mir die Leiterin der stationären Pflege. Generell interessieren sich viele Frauen für Pflegeberufe, wenn sie in den Beruf zurückkehren, weil sie ihre Schichten an die private Situation anpassen können. Zumindest in guten Häusern.

Korrekte Arbeitsbedingungen

Die Residenz am Wiesenkamp ist ein solches. Das stelle ich – zu meiner Erleichterung – schnell fest. altenpflegeJeden Morgen bekomme ich frische Arbeitskleidung auf meinen
Spind gelegt. Das ist aus hygienischen Gründen Vorschrift. Auch sonst wird nichts von mir verlangt, was ich nicht tun dürfte. Das sieht in vielen Pflegeheimen anders
aus, wie mir die Kolleginnen, die nicht wissen, dass ich Journalistin bin, bestätigen.
Eine erzählt: „Bei meinem vorherigen Arbeitgeber mussten wir um jede Banane für die Bewohner betteln. Einmal wollte ich in einem Heim zur Probe arbeiten, da sollte ich direkt die Nachtschicht übernehmen – allein. Von Arbeitskleidung keine Spur.“ Die Kollegin war zum Glück selbstbewusst genug, sofort ihre Sachen zu nehmen und zu gehen. Andere sind vielleicht nicht so stark. Es ist keine Seltenheit, dass selbst Praktikanten eine Station allein betreuen müssen, sogar Medikamente austeilen, ohne die Bewohner und ihre Geschichte zu kennen. Für mich sind die Eindrücke
und Herausforderungen auf der Pflegestation auch so schon sehr intensiv.

20 – 25 Minuten für eine Ganzkörperwäsche

Gleich am ersten Morgen steht ein nackter Herr vor mir. Er braucht Hilfe beim Waschen und erzählt, dass er sich dabei den Kopf bei einem Sturz gestoßen habe. Herr L. hat lange mit seiner Lebensgefährtin Frau B. in einem Selbstversorger-Appartement der Residenz gelebt. Seit Frau B. ein Pflegefall wurde, leben sie Tür an Tür auf der Station. Frau B. hatte einen Schlaganfall und leidet an Demenz. Während die examinierte Kollegin, die ich begleite, sie wäscht, schaut Frau B. mich sehr eindringlich an und lächelt plötzlich. Ich denke: Was für eine wunderschöne Frau und habe das Gefühl, dass sie mir etwas sagen möchte. Frau B. sieht aus wie jemand, der genau weiß, was er will oder nicht. Nur mitteilen kann sie es nicht mehr. Laut Katalog der Pflegekasse darf eine Ganzkörperwäsche 20 bis 25 Minuten dauern. Zum Glück können meine Kolleginnen sich auch mal etwas mehr Zeit nehmen, als die Pflegeversicherung vorsieht. Um die 18 Bewohner meiner Station kümmern sich pro Schicht zwei examinierte Altenpfleger, unterstützt von Pflegehelfern, Auszubildenden, Praktikanten. Drei bis vier Personen sind gleichzeitig im Dienst. Die Auszubildende, die ich gern begleite, weil sie sich auf ihre Prüfung vorbereitet und alles sehr genau erklärt, erzählt: „Ich versuche immer, mir für Frau B. ein bisschen mehr Zeit zu schaffen. Bewohner, die nicht mehr sagen können, was sie brauchen, kommen sonst schnell zu kurz“.

Betten machen, Wäsche sortieren, zur Toilette helfen

Nach wenigen Tagen arbeite ich recht selbstständig. Ich mache Betten, sortiere schmutzige Wäsche, helfe beim Toilettengang oder in der Küche. Es gibt immer etwas zu tun. Und natürlich gibt es Momente, die mich nachdenklich stimmen. So ist eine Bewohnerin in den letzten Tagen
mehrfach gestürzt und wird in das benachbarte Krankenhaus gebracht. Gleich am ersten Tag hatte ich mich über eine Art Turnmatte vor ihrem Bett gewundert. „Frau Dr. S. versucht manchmal, allein aufzustehen“, erklärte mir die Stationsleiterin, die Matte soll verhindern, dass sie sich verletzt, wenn sie fällt“. Ich frage, ob es nicht sinnvoll wäre, ein Gitter an der Seite des Bettes zu befestigen und lerne: Das wäre Freiheitsberaubung. Solche Gitter gelten als Fixierung und sind nur mit gerichtlicher Anordnung erlaubt. Probleme habe ich vor allem mit unangenehmen Gerüchen, wenn zum Beispiel Toilettenstühle gereinigt werden müssen. Doch die Kollegen beruhigen mich: Daran muss sich jeder erst gewöhnen.

Die positive Seite der Altenpflege

Wunderbar sind Erlebnisse wie das große Grillfest, gemeinsames Kochen und ein Ausflug auf die Reeperbahn. Eine Bewohnerin hatte sich gewünscht, dort essen zu gehen. Ein Herr, der bei jeden Handgriff Hilfe braucht, sonst kaum spricht und oft nicht essen mag, lässt sich beim Grillfest dreimal Nachschlag geben und ist viel lebendiger, als ich ihn sonst erlebe. Die zwei Wochen vergehen unheimlich schnell und ich bin sehr dankbar für die Erfahrungen, die ich machen durfte. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass es in der Altenpflege viele Menschen gibt, die ihren Job gern und mit Liebe ausüben. Und Einrichtungen, in denen Pflegebedürftige verantwortungsvoll und fürsorglich betreut werden. Eine beruhigende Vorstellung für die eigene Zukunft.

Info Residenz am Wiesenkamp:

Seit 20 Jahren gibt es die Residenz am Wiesenkamp. Im Wohnpark leben 200 Senioren in Wohnungen zwischen 39 und 75 qm. Die Pflegestationen bieten Platz für 92 Menschen. Zum Angebot gehören u. a. Ergotherapie/Gymnastik, Bewegungsbad, Zahnarztsprechstunde, Apotheken- und Hörgeräte-Service. Telefon: 040 / 644 16 – 0,

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